Frankfurter Buchmesse, 1982
Frankfurter Buchmesse, 1982

 

Beide, Johnson wie auch Brasch, wurden dann vom Suhrkamp Verlag verlegt. Und beide Autoren freundeten sich an. Es ging sogar soweit, dass Thomas Brasch 1982 nach Sheerness-on-Sea reiste, hier Johnson aufsuchte, um ihm vergeblich „[…] das »Hirngespinst« zu nehmen, »der Liebhaber seiner Frau sei ein tschechischer Agent und habe sie darauf angesetzt, die Arbeit am vierten Band zu schädigen«. (Gemeint war der vierte Band der Jahrestage.)

Er widmete dem Freund, nachdem er Johnsons Skizze eines Verunglückten - denn hier lag die Beschuldigung in verschlüsselter Form vorgelesen hatte, das Gedicht Halb Schlaf.

Uwe Johnson schnitt dieses Gedicht später nach dem Erscheinen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus, ließ es rahmen und hängte es in das Arbeitszimmer über seinen Schreibtisch an die Wand.

 

Beide trafen sich auf der Frankfurter Buchmesse im Jahr 1982 und gleich kam es zum Streit zwischen ihnen. Dabei ging es um den vierten Band von Johnsons Jahrestage. Brasch wollte helfen und empfahl Johnson auf Ausformulierungen zu verzichten und einfach das gesamte recherchierte Material zu veröffentlichen um die offensichtliche Schreibblockade zu überwinden. Doch es ging überhaupt nicht um einen üblichen „writer’s block“. Vielmehr lag die Wahrheit bei Johnson viel tiefer: „eine für Außenstehende kaum zu durchschauende Mischung aus Wahn und Wirklichkeit. Johnson empfand sich von seiner Frau über Jahre hinweg betrogen mit einem tschechischen Geheimdienstoffizier und sah dadurch das gesamte Projekt seiner Jahrestage diskreditiert. In der „Skizze eines Verunglückten“ hat Johnson 1981 seine Imagination dieser Geschichte erzählt, um achtundzwanzig Jahre in die Vergangenheit versetzt als Geschichte des J[oe] Hinterhand, der seine Frau tötete, weil sie ihn betrogen und sein Gefühl für Anstand und Recht verwundet hatte.“

Die Aussage Braschs empfand Johnson zwar als zutreffend aber auch als oberlehrerhaft „[…] und fragte ihn wütend, ob er, Brasch, ihm den Abschluß der Jahrestage nicht zutraue.“

Nach diesem Treffen entstand also Braschs Gedicht Halb Schlaf. Und die Parallelen zu Johnsons Skizze eines Verunglückten sind augenscheinlich erkennbar. Die Grundstimmung: „Denn im Moment der Erkenntnis, daß man ihm ein richtiges Leben vorgespielt habe inmitten eines falschen, sei ein Bewußtsein angehalten worden, arrestiert, versiegelt, bloß noch ein Behältnis, in dem starr Vergangenheit verwaltet werde. Ganz in sich eingeschlossen, in sich selbst verrannt und verhängt, sperrt sich das Bewußtsein gegen neue Eingänge‘, also Erkenntnisse, bleibt ,süchtig, im Zustand einer Folter zu verharren‘“ („Skizze“) – was spiegeln Wörter wie die dunklen Gänge, das Finster, das Schädelhaus, das Grinsen, die Gespenster, das Zittern denn anderes als innerlichste Angst, das Psychogramm des Gequälten? Im Gedicht wird es, so wie der Wächter es wahrnahm, aufgenommen, das Zittern im Lachen, der Schrecken gebannt in der Poesie, eingeschlossen in Vers und bindenden Reim: und endgültig zur Ruhe gebracht.“

 

Nachdem man Uwe Johnson tot in seinem Haus in Sheerness-on-Sea gefunden hatte, hing das Gedicht noch immer gerahmt im Arbeitszimmer über dem Schreibtisch an der Wand.

Und: „Es ist aber wahrscheinlich, daß Thomas Brasch, der – wie Johnson – unerbittliche Freund und selbst für die Welt Verlorene, dieser heftig Liebende und unendlich Einsame, dieser „in die eigenen Stränge verhängte“ Mensch zitternd und lachend, weinend und grinsend dies alles auch zu sich selbst in seinem Schädelhaus hat rufen hören.“