Eine Auswahl der hier veröffentlichten Texte sind dem Text-Bildband „... oder bist Du das Reisen satt?“ von Matthias Dettmann im Morio Verlag Heidelberg/Mitteldeutscher Verlag Halle 2021 erschienen.


In einem Buch ist eine Handlung zumeist linear. Es gibt eine erste und eine letzte Seite, einen Anfang und ein Ende. Oftmals zeitlich und inhaltlich aufeinander aufbauend.
Möchte man aber zwischen den Inhalten und Zeiten zappen, mal hier und mal dort eintauchen, mal von New York nach Rostock, von Rostock nach Key West, von Stockholm nach New York reisen und im Laufe dieser Reise unerwartete Verbindungen zwischen Künstler*innen und Autor*innen ganz unmittelbar entdecken, dann bedarf es einer Idee über das traditionell geschriebene Buch hinaus.
Nun nehme man eine Webseite: Es gibt keinen Anfang und kein Ende, keine erste und letzte Seite. Es endet nie. Ebenso wie die Verbindungen, Netzwerke zwischen Künstler*innen und Autor*innen ein Geflecht bilden, das sich unentwegt erweitert. Man klickt sich fragmentarisch, collageartig durch Texte und Zeichnungen, lässt sich nach Belieben zwischen William S. Burroughs und Hilma af Klint treiben.
Und dennoch möchte diese Webseite an Bücher erinnern, bestenfalls an ein breites und hohes Bücherregal. Man steht davor und nimmt ein Buch nach dem anderen in die Hand, blättert darin, findet Themen wie den Dust Bowl, sich duellierende Künstler und Literaten, Wellen der Aus- und Einwanderung, das Einrichten im Exil, entdeckt Anekdoten und unerwartete Verbindungen zwischen Künstler*innen und Orten auf der ganzen Welt und quer durch die Zeit.


Dabei geht es nicht darum, biographische Details aufzulisten und nach bekannten oder unbekannten Verbindungen zwischen den Künstlerinnen und Künstler aufzuspüren und erneut zu reproduzieren. Die Verbindungen sind anderer Natur: thematisch, ästhetisch, formal. Es geht um assoziative Reihungen, die letztlich wie Sprache funktionieren: Ein Wort ergibt sich aus einem anderen, erinnert an ein weiteres. Ausgangspunkte können tatsächlich einzelne Worte sein, aber auch Anekdoten, ganze Geschichten – oder eben auch biografische Details. Die unendliche Semiose macht es möglich, dass auf diese Weise in der Unabgeschlossenheit einer Webseite Akteure aufeinandertreffen, die sich nie begegnet sind, die nicht einmal Zeitgenoss*innen gewesen sein müssen. Die Unabgeschlossenheit ist die Chance, es gibt keinen Plot, keine Held*innenreise. Spannungsbögen ergeben sich unendlich viele auf dem Weg von einem Detail zum nächsten, von einer Story zu anderen, und sie entstehen durch die Beliebigkeit der aufgerufenen Fragmente immer wieder neu.


Das Verfahren ist interaktiv, es ist neu und gleichzeitig auch nicht, denn Autorinnen und Autoren, die mit collagiertem, gefundenem oder neu formuliertem Material arbeiteten, setzen sich selbst zu diesen gefundenen Stücken in Beziehung und erwecken die Fragmente durch ihre Anordnung aufeinander zum Leben. Da schlägt die Nachbarschaft scheinbar disparate elementare Funken, da erhellt sich Nicht-Zusammengehöriges gegenseitig. So hat schon Walter Kempowski in seiner Echolot-Serie gearbeitet, als er Briefe, Plakate, Artikel gleichsam sinnlich aneinanderfügte: kalt und heiß, leise und laut. Es ist kein Zufall, dass in der Überschrift zu diesem Text Kempowski auf Uwe Johnson trifft, denn auch der große Romancier hat besonders in seinen “Jahrestagen” collagiert, setzte kalte, (vermeintlich) sachliche Artikel und Headlines der „New York Times“ in Kontrast zu den intimen Erinnerungen der Hauptfigur Gesine Cresspahl, zu ihren Gesprächen mit der Tochter.
Das Prinzip des Links ermöglicht nun ein ganz anderes, gleichsam unkontrolliertes Ein- und Abtauchen in Texten, Erinnerungen, Nacherzählungen oder dürren biografischen Fakten. Da gibt es kein Oben und Unten, kein Vorher und Nachher, Zeit spielt nur auf der Mikroebene der einzelnen Anekdoten eine Rolle. Und als die Lebenszeit, die Leserinnen und Leser brauchen, um sich durch den Text-Raum zu bewegen, horizontal oder vertikal, in jedem Falle diachron.


In Fortführung des Reisebuchs „... oder bist Du das Reisen satt?“ wird auf dieser Webseite der fragmentarische Ansatz weiter ausgestaltet und bietet Leserinnen und Lesern eine Reise, deren Anfang und Ende sie selbst bestimmen.


Von Matthias Schümann und Matthias Dettmann