Harlem, Mitte der 50er Jahre
Harlem, Mitte der 50er Jahre

 

 

Der Verleger Siegfried Unseld schrieb in einem Brief an den Schriftsteller Wolfgang Koeppen:

Lieber Wolfgang, / das Echo auf Uwe Johnsons Tod, die Betroffenheit, die sein Tod auslöste, ist ungewöhnlich; in 33 Jahren habe ich so etwas nicht erlebt. Autoren, Buchhändler, Verlegerkollegen, Kritiker, die Freunde Uwes (es sind wenige, aber doch auch wieder mehr als ich persönlich kannte) – sie alle äußerten ihre Anteilnahme. Bewegend sind die vielen unbekannten Leser, die ihre Betroffenheit und Trauer bekundeten.

Das Echo, wie es Unseld beschrieb, hallte auch bei Koeppen nach, denn er schrieb 1984 für das Magazin „Der Stern“ einen Nachruf auf den Kollegen Uwe Johnson, mit dem Titel: Ein Bruder der Massen war er nicht.

Siegfried Unseld brachte ihn zu mir, beginnt Koeppen darin und schreibt weiter: Das war 1959, im Jahr der ‚Mutmassungen über Jakob‘. Der junge Chef des Suhrkamp Verlages hatte das junge Talent Uwe Johnson an seine Brust genommen und sein erstes Buch, diesen Roman über einen gewissen Jakob gedruckt. Zu dieser Stunde, vor meiner Tür, sahen Unseld und Johnson wie Brüder aus. Da war ein Glaube an eine gemeinsame Zukunft in ihren Gesichtern. Unseld blieb Johnson, seiner ersten Entdeckung, in besonderer Weise verbunden. Sie waren nicht Brüder, sie wurden Freunde und hielten einander die Treue über alle Krisen hinweg, die unvermeidlich waren.

‚Mutmassungen über Jakob‘ wurde der seltene große Erfolg eines literarischen Debüts. Die Kritik hatte den literarischen Wert des Buches sogleich und fast einmütig erkannt; die Verbreitung entsprang zum Teil einem Mißverständnis. ‚Mutmassungen über Jakob‘ verkauften sich als Roman eines vor Zensur und Unterdrückung aus dem Osten in den Westen geflüchteten jungen Schriftstellers und wurden gelesen als intime Abrechnung mit der DDR auf geistigem Niveau.

Johnson ist aber ein Gerechter gewesen. Sie sterben aus und sind schwer zu verstehen. […] Und auch seine eigene persönliche Äußerung, die auf eine gewisse Weise Literatur geworden ist, er wäre selbst nicht in den Westen geflohen, denn er sei lediglich umgezogen, ist schwer zu verstehen: […] so ichbestimmt, ärgert Freund und Feind, befand Wolfgang Koeppen in „Eine schöne Zeit der Not“. Und fragt sich selbst: War ich [1935] in Holland Emigrant geworden? Ich konnte das nicht ernst nehmen, denn ich glaube, ich bin immer ein Emigrant, war ein Emigrant bei meiner Geburt und werde ein Emigrant im Tode sein. Doch hätte ich damals gern, wie später Uwe Johnson, als er von Osten nach Westen ging, gesagt, ich sei umgezogen.

Dann Koeppen im Nachruf weiter: Johnson suchte die Wahrheit. Die Wahrheitssuche ist aber ein Prozeß, und erst wenn man ihn beschreibt, nähert man sich vielleicht der Wahrheit. Ihm blieben Zweifel, aber er war ein innerlich so wahrer, die Lüge ablehnender Mensch, daß er aus der Wahrheit, seiner Wahrheit dachte und schrieb. Das verstimmte im Osten und im Westen die Leute, die sich im Besitz der guten, allgemeingültigen Wahrheit glaubten, der jeder anständige Mensch sich zu unterwerfen hat, was gerade der anständige nicht kann.

Johnson war nicht unparteiisch, er war nur unpathetisch. Er schrieb nicht, er untersuchte. Er schloß ein Vorurteil, den eigenen Irrtum nie aus. Aber ihn leitete das Gefühl für die Unterdrückten, die Unfreien, die Verfolgten, die Armen, die Hilflosen. Der große Schriftsteller ist der gottgegebene Anwalt der Verstoßenen. Eine Zeitungsnotiz über die Mißhandlung eines N****kindes, […]

Dieser Ausdruck, heute meist als N-Wort bezeichnet, der aus der Sicht eines im 21. Jahrhunderts  Lesenden Befremdung und Empörung ausdrückt, dieses Ausdrucks bediente sich Wolfgang Koeppen des Öfteren. Zum Beispiel in seinem Roman „Tauben im Gras“ von 1951 und auch in Koeppens zweitem Reisebuch „Amerikafahrt“ von 1959 findet sich immer wieder dieser Begriff, und löst in der heutigen Bildungswelt Unbehagen aus, denn der Roman sollte zur Pflichtlektüre an beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg werden.

An einer beruflichen Schule in Ulm hat sich eine Lehrerin geweigert, angesichts des wiederholten Gebrauchs des Wortes diesen Roman der Nachkriegszeit in ihrem Unterricht mit den Schülerinnen und Schülern zu diskutieren. […] Es sei Schülerinnen und Schülern nicht zuzumuten, durch das Vorlesen rassistischer Begriffe mit einer Diskriminierungserfahrung konfrontiert zu werden. Die Lehrerin jedenfalls mochte sich der exemplarischen Lektüre nicht länger aussetzen und kündigte. Trotz der massiv vorgetragenen und von einigen Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern unterstützten Kritik entschied die baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper, an der Pflichtlektüre des Romans festzuhalten. Nun jedoch soll es eine Alternative geben: Vom Abitur 2025 an können Lehrkräfte an beruflichen Gymnasien selbst entscheiden, ob sie statt ‚Tauben im Gras‘ aus dem Jahr 1951 den Exilroman ‚Transit‘ von Anna Seghers im Unterricht behandeln. So jedenfalls teilte es unlängst ein Sprecher der Kultusministerin mit. Ein salomonisches Urteil. […]

Es besteht kein Zweifel, dass Seghers‘ Roman viel Stoff für Schülerinnen und Schüler bietet und dass man daraus auch aus aktuellen Gründen viel über das Leben und eine Gesellschaft lernen kann. Aber kann man „Transit“ mit „Tauben im Gras“ vergleichen? Bei Seghers‘ Exil-Klassiker entwickelt und breitet sich vor dem Lesenden die Geschichte eines Flüchtlings in Marseille aus, der durch die Hafenstadt irrt, auf der Suche nach einer geheimnisvollen Frau, auf sein Transit wartet und hier zum Antifaschisten wird. Seghers‘ hatte sich zu ihrem Buch während der eigenen Flucht Notizen gemacht. Sie war mit ihren beiden Kindern und ihrem Mann durch ein mexikanisches Visum über Marseille in die USA und dann nach Mexiko gereist. Ein französisches Ausreisevisum, Transitvisa, Schiff-Billets und Geld für mögliche Kautionen war vorhanden, sodass die Familie am 24. März 1941 Frankreich mit dem Frachter „Capitaine Paul Lemerle“ verlassen konnte. Ihr Sohn Pierre Radványi erinnert sich später auch an die Reise in seinen Erinnerungen an die Mutter („Jenseits des Stromes“): Es war heiß. Meine Mutter machte sich Notizen. Sie arbeitete an ersten Entwürfen für ihren späteren Roman ,Transit‘. Ein Teil von dem, was wir erlebt hatten, wollte sie in romanhafter Weise und mit Abstand schildern. […]

Als sie mich fragte, ob der Held der Geschichte, der Erzähler, am Ende in Frankreich bleiben oder fortgehen solle, antwortete ich ihr ohne zu zögern: dableiben.

Bei Koeppen ist die Handlung an einem Tag in München der Nachkriegszeit angesiedelt. Die Zeit des Nationalsozialismus ist noch spürbar und Koeppen beschwört diese Zeit umfangreich herauf. Die Schülerinnen und Schüler stünden also vor der Wahl oder plakativ ausgedrückt: Exilliteratur oder innere Emigration - der Koeppen zugerechnet wird, obwohl er einige Zeit im niederländischen Exil verbracht hat, 1938 aber nach Berlin zurückkehrte. Um nicht zur Wehrmacht eingezogen zu werden, versteckte Koeppen sich nach Kriegsausbruch 1939 bei Starnberg.

Auf der Plattform Wikipedia heißt es zur Herkunft des nicht nur von Wolfgang Koeppen genutzten Begriffs:

Nach dem  ‚Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache‘ hat das Wort N**** die Ausgangsbedeutung „Schwarzer“ (wie sie etwa 1879 von Wilhelm Busch synonym verwendet wurde und wie sie auch der Duden von 1929 noch angab) und ist ein Lehnwort aus dem französischen nègre, das wiederum vom spanischen negro, der Nachfolgeform des lateinischen niger („schwarz“), abgeleitet ist.

Die Bezeichnung wurde erstmals im 16. Jahrhundert während des spanischen und portugiesischen Sklavenhandels für Menschen verwendet, vornehmlich für afrikanische Versklavte, und bezog sich auf deren dunkle Hautfarbe. […]

Im aktuellen Sprachgebrauch erhalte die Bezeichnung ihren diskriminierenden Charakter aus den etymologischen Wurzeln, denn das spanische und portugiesische ‚negro‘ sei eine „abschätzige […] Bezeichnung für die als Sklaven gehandelten Eingeborenen Afrikas“ gewesen.[…]

Und selbst das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL schrieb in einem Artikel noch 1978 über Latinos in den USA von der „einstigen Masseneinfuhr afrikanischer N****“ und dass „die Minderheit der Latinos die US-Neger an Zahl übertroffen“ hätten.

Der Begriff verschwand spätestens zum Ende des 20. Jahrhunderts immer mehr aus dem alltäglichen Gebrauch. Und wird bisweilen durch den Euphemismus des N-Wortes ausgetauscht, das auf den ersten Blick nicht mehr so negativ aufgeladen sein soll - doch im Grunde verhüllt er nur den Rassismus und die Abwertung.

Der Verweis darauf, dass das N-Wort einer zeitgenössischen Ausdrucksweise entsprach, ändert dabei nichts daran, dass Koeppen im Verlauf seines Textes [‚Amerikafahrt‘] die Wahrnehmung schwarzer Menschen als Kompositionsmittel zum Ausdruck einer gesteigerten Fremdheitserfahrung einsetzt. „Ich wollte Harlem sehen, die N****stadt, die schwärende Wunde von New York, wie manche sie im Zorn nennen, das dunkle Getto, aus dem die Nachkommen der Sklaven, die Kinder jener Ware, die als schwarzes Elfenbein hoch im Kurs stand, New York jeden Morgen afrikanisch überfluten, Gespross der Zwangseinwanderer, früh schon an die Küste getrieben, Neuweltadel, amerikanisch wie die Pilgrimsväter der Mayflower.“

Aber er war sich auch des vorherrschenden Rassismus in Amerika bewusst, was sich in seinen Texten widerspiegelt, und dennoch bleibt ein Beigeschmack auf […] jene Exotisierung  und klischeehafte Erotisierung, die schwarze Haut auf den Betrachtenden ausübt. Dabei verfügt Koeppen durchaus über einen ethnografischen Blick, aufmerksam für die Wunder und Widersprüche des Alltags in US-amerikanischen Metropolen. Ein Blick in die Schaufenster Harlems wird dabei zum Ausgangspunkt einer abgeklärt-soziologischen Überlegung. „Die weißen Puppen sahen in der farbigen Welt krank und blutarm aus. Warum hatte man keine schwarzen Puppen in die Schaufenster gestellt? Verkaufte sich an schwarze Mädchen das Brautkleid besser auf weißem Leib? Ich streifte durch die Läden. Wenn man sich daran gewöhnt hatte, dass sich alles unter Schwarzen abspielte, wurden die Geschäfte uninteressant. Palmolive bleibt Palmolive. Wir leben in einer Welt. In der westlichen Welt. Im Osten gelten andere Marken.“