Wolfgang Koeppen „So sieht der Globus aus, wenn er vom Phantasieroß aus mit umgekehrten Fernglas betrachtet wird.
Wolfgang Koeppen „So sieht der Globus aus, wenn er vom Phantasieroß aus mit umgekehrten Fernglas betrachtet wird.

 

Dass Wolfgang Koeppen überhaupt reisen konnte, verdankt er einem anderen Schriftsteller: seinem Freund und Kollegen Alfred Andersch. Als Leiter des Radio-Essays in Stuttgart war er ein Gott, der mir die Welt anbot. Der Erdball lag in Anderschs Hand. Ich brauchte ihn nur zu ergreifen. 1979 erinnerte sich Alfred Andersch in der Sendereihe „Zeitgenossen“: Wolfgang Koeppen, den schickten wir ins Ausland. Er fuhr überall hin […] und brachte dort Reiseberichte mit, die scheinbar völlig subjektiv waren, nur einfach Beobachtungen des Schriftstellers Wolfgang Koeppen. Die schlugen so ein, daß die Intendanten der betreffenden Sender mich händeringend anflehten, möglichst viele Koeppen-Sendungen ins Programm zu bringen.

Der Historiker Axel Schildt schrieb 1995 in seinem Buch: „Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist in der Bundesrepublik der 50er Jahre“:  […] die politischen Umstände nach dem Zweiten Weltkrieg, die Entwicklung der USA zu einer der beiden entscheidenden Weltmächte sowie die Notwendigkeit, eine Position in diesem Lande zu gewinnen, führten zu einer wahren Flut amerikakundlicher Literatur. Als im Laufe der fünfziger Jahre immer mehr Deutsche Amerika kennenlernen wollen, die wirtschaftlichen Verflechtungen enger werden und die amerikanische populäre Literatur und ihre ästhetischen Muster das Alltagsleben in Westdeutschland mitprägen, potenziert sich die Literatur über Amerika. Wolfgang Koeppen passt sich diesem Hype an und fliegt nicht eben schnell mal rüber, sondern reist wie es zu dieser Zeit noch üblich war mit dem Schiff. Ganz im Sinne der Flüchtlingswelle von 1850 bis 1900 oder der Exilbewegung während des 2. Weltkrieges.

Koeppen geht seine eigenen Wege. Er führt seine Leser auch in diesem Land „anderswohin“,  vor allem in die amerikanische Literatur und in die Literatur über Amerika. Für ihn läßt sich Amerika weniger durch Städte, Gebirge und Flüsse als durch Autoren und Buchtitel beschreiben, müssen sich vielmehr Empirie und Imagination palimpsestartig überlagern.

Schon der Anblick Manhattans vom Schiff aus ist Anlaß für eine längere Passage, die sich als ein Zitat entpuppt: „Also beschrieb Herman Melville 1850 New York, da er Moby Dick, den weißen Wal, seine Chimäre, jagte.“ Gleich nach diesem Zitat fällt ihm auch Franz Kafka ein, der Amerika nie erreichte, doch von Amerika den wahrsten Traum hatte […]. Und wenn die literarische Vorstellung Koeppens mit dem, was er tatsächlich sah, übereinstimmte, war er wohl am glücklichsten. Zum Glück sah ich gedrungene altertümliche Fährboote über den Bodden treiben, und sie zauberten mir, wie sie mit schwerer Menschenfracht, radrollend, schaumschlagend den Hudson querten, das Amerika meiner Erwartung, sie ließen an Mark Twain denken, an Walt Whitman, wenn auch der Mississippi und die grünen Jagdgründe fern und die Tage der Dichter vergangen waren.

Im Oktober 1967 veröffentlichte Uwe Johnson in Hans Magnus Enzensbergers „Kursbuch 10“ seinen Text „Ein Brief aus New York“, den Wolfgang Koeppen nach dem Erscheinen sicherlich gelesen hatte.

In Koeppens Text „New York“, erschienen 1961, also sechs Jahre vor Johnsons Text, heißt es gleich zu Beginn: Ausgebootet, über Bord geworfen, aus der Heimat gefallen, die schon vergessen ist. Amerika nicht zu sehen. Blinde Passagiere. Was hatten wir töricht gehofft? Wir waren ausgemustert; einige aussätzig. Unser Schiff war untergangen, bugwärts hinabgefahren, über die Toppen beflaggt. Wir nannten uns gerettet. […]

Der Begriff „anderswohin“, der auch im Untertitel zu seinem ersten Reisebuch „Nach Rußland und anderswohin. Empfindsame Reisen“ stand, betont unübersehbar den literarischen Charakter der Reiseessays, er spielt auf eine Bezeichnung an, die im 18. Jahrhundert von einem anderen Roman- und Reisebuchautor, von Laurence Sterne, mit seinem Buch ‚A Sentimental Journey through France and Italy. By Mr. Yorick‘ von 1768 geprägt wurden und durch Moritz August Thümmels ‚Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich im Jahr 1785-1786‘ nach Deutschland überging und dort von mehreren anderen Autoren nachgeahmt wurde. Während die Reisebuchautoren des 18. Jahrhunderts jedoch mehr Gewicht auf die Regungen legen, die die äußeren Eindrücke in ihrer Seele hervorrufen, steht bei Koeppen die gegenständliche Welt im Zentrum, gespiegelt allerdings in subjektiver Perspektive und vermittelt durch die von seinen Romanen her vertrauten Stilmittel der Ironie und Satire, der Groteske und Phantasie. [...]

„Anderswohin“ findet sich im Sujet „Amerikafahrt“, vielleicht auch in „New York“ nicht wieder. Uwe Johnsons „Brief aus New York“ spricht es anders und gleich zu Beginn aus:

Über was hier anders ist

Und weiter:

in New York im Staat New York

weiß du es ist eine von jenen Städten in die die westberliner Zeitungs-
verleger kleine Klingeln aus Porzellan schicken an Familien denen ein

Angehöriger umgebracht wurde bei dem Versuch Angehörige anderer

Familien umzubringen

in Viet Nam das ist noch hinter der Türkei

ein Brief über was hier anders ist über einen Unterschied

Ende der Überschrift

Er nutzt in dem nur vierseitigen Text die Farbe Gelb, um zu erklären, „was hier anders ist“, ist New York. Johnson beschreibt seine Erfahrungen in Ost- und Westdeutschland, der Lebenskultur dieser zwei deutschen Staaten, die verschieden sind, aber auch wieder nicht, legt gesellschaftliche Unterschiede dar, zeigt rassistische Motive auf, mahnt vor einem atomaren Krieg, prangert den Vietnamkrieg 1966 an, und für Lesende breitet sich dieses gesellschaftliche, politische Panorama erst auf den zweiten, gar dritten Blick aus.

Ein Beispiel:

wenn hier einer gelb heißt das er gibt an und womöglich mit Gejohle hier glaubt die Sprache daß manche Eingeborene im Südwesten des Landes gelbe Bäuche haben gelb wie Schwefel

Diese Passage bezieht sich auf den Begriff „Yellowbelly“. Ein im englischen Slang abwertender Begriff für Feigling und im amerikanischen Slang im Südwesten der USA ist damit ganz besonders abwertend das mexikanische Volk gemeint.

Dieser Text wirkt bis heute, angesichts der vielen Krisenherde auf der Welt, des sich ausbreitenden Nationalismus, tragischerweise aktueller denn je.

Es könnte sich auch die Frage auftun, ob Johnsons Text heute relevanter ist als Koeppens. Oder sollte man vielmehr darüber nachdenken, im Unterricht zusammen mit den Schülerinnen und Schülern nicht nur eine Sicht zu besprechen, sondern verschiedene Perspektiven zu behandeln? Wolfgang Koeppen (Innere Emigration), Anna Seghers (Exilliteratur), Uwe Johnson und all die anderen wichtigen Strömungen dieser Zeit, und derer davor und danach?

Es war Ende der 50er Jahre keine Bildungsreise von Wolfgang KoeppenVielmehr kam in ihr Weltwahrnehmung eines Untergetauchten und Entkommenen zum Vorschein, der das zerstörte Europa im Gepäck hatte und auf eine unzerstörte, aber keineswegs heile Welt stieß. Die Aussicht auf Verwirklichung des amerikanischen Traums fokussierte Koeppen bevorzugt auf Kinder. „Auf den breiten Stufen, in den Marmorhallen und Gängen des Kapitols waren kleine N****, kleine Chinesen, waren Filipinos, waren alle Völker aller Erdteile stolz, Amerikaner zu sein. Mich rührte und tröstete der Anblick, N****kinder in Scharen und seligen Gesichtes vor dem Bild des Sklavenbefreiers, des großen Lincoln zu sehen. […] Mich ließ die lebendige Verehrung an Amerika glauben.“

Im Artikel „Streit über Koeppen als Schullektüre“ von Harry Nutt der Frankfurter Rundschau heisst es: Wer Koeppens Reiseerzählung nach langer Zeit aufschlägt, zuckt unangenehm berührt zusammen angesichts der scheinbar obsessiven Verwendung des N-Worts. Sie zeugt gewiss auch von einer zeitgenössischen literarischen Beschränktheit. Zugleich aber ist „Amerikafahrt“ ein bemerkenswertes Dokument der wiedergewonnenen Möglichkeit, nach 1945 von Deutschland aus in die Welt zu gehen. Es sollte jungen Leserinnen und Lesern mit dem aktuellen Wissen um die vielfältigen Verkehrsformen der Diskriminierung zumutbar sein, diese Entdeckungen zu machen.