Betitelte Wolfgang Koeppen seinen Nachruf auf Uwe Johnson noch mit: „Ein Bruder der Massen war er nicht“, könnte er sich damit auch selbst gemeint haben. Ganz im Sinne der Hauptfigur in Herman Melvilles „Der Schreiber Bartleby“ oder besser gesagt in „Dead Letter Office“ und dem bis heute legendären Satz: „I would prefer not to – Ich möchte lieber nicht“, kann man sich in dieser Rolle auch Koeppen vorstellen. Besser gesagt: Wolfgang Koeppen war ein Verwandter des großen Verweigerers. Bartleby schwieg, bis er starb; dann erzählte man, er habe zuvor in einer Sammelstelle für unzustellbare Briefe gearbeitet. Als Autor verlorener Botschaften, wie sie dort auf dem Tisch landeten, sah sich Koeppen selbst: Vielleicht habe er, so beantwortete er einmal die Frage nach dem Lebensbezug seines Erzählens, einen Brief an einen unbekannten Empfänger abgeschickt. Mehr noch: Es scheint, als habe Melvilles Dead Letter Office seinen Sitz in Koeppens Münchner Domizil gehabt, wo beide, der Kopist und der Schriftsteller, als literarische Figuren zusammenlebten.
Koeppen blieb nach außen freundlich und tat so, als gäbe er jedem Interessierten Auskunft, behielt aber sein Inneres für sich und prägte somit den Ausdruck: Ich wurde eine Romanfigur.
Keiner hat diese Romanfigur je gesehen. Doch in einem Bändchen zu Koeppen erschienen 1972 einige Miniaturen unter dem Titel ‚Vom Tisch.‘ Darin findet sich eine Passage über den fiktiven Mitbewohner (der ein paar Zeilen später ‚mein Mörder‘ heißt): ‚Ich glaube, mich zu erinnern. Aber wer ist das, der sich erinnert? Der Unbekannte in diesem Zimmer, an diesem Tisch, vor Briefen, die an einen andern gerichtet sind, der einmal gewesen ist? Vielleicht erinnert er sich an mich. Oder ich erinnere mich für einen. Du bist es, den Erinnerung überfällt. Du erduldest Erinnerung. Vielleicht sind die Bilder wahr. Doch Lügen wären nicht weniger wahr. Ein intensives Studium einer selbst hat mich dazu gebracht, nicht zu wissen, wer ich bin. Ich weiß auch nicht, wer er ist. Ich beobachte ihn, und wahrscheinlich beobachtet er mich.‘
In dem unheimlichen Vexierspiel eines in Absender und Empfänger, Täter und Opfer aufgespaltenen Ich versammeln sich die bekannten Doppelgänger – Bartleby über den toten Briefen, Mr. Hyde, Tallhover, der im Spiegel der Vergangenheit konservierte Dorian Gray. Die Verdoppelung in Erinnernden und Erinnerten wird so bedrohlich, dass sie den gegenwärtigen Menschen zerteilt. Wer ist, wer war der andere, wer ich? Koeppen variiert hier einen seiner Lieblingssätze: Ich weiß es nicht. Mit anderen Worten: Ich möchte lieber nicht… Die Erklärungskraft dieser Sätze für das ungeschriebene, das geschriebene und das unschreibbare Werk, das Leben heißt, ist kaum zu überschätzen.
Wolfgang Koeppen litt, wie Johnson bei seinem letzten Band der „Jahrestage“, am Schreiben. Er hatte den sogenannten writer‘s block. […] Da er nicht schrieb, nötigte man ihn zum Reden. Er redete sich heraus. Da die Erinnerung verstellt wurde, verstellte er sich – wie zur Zeit der Hölle: ‚Ich ging Eulenspiegels Wege.‘ In unzähligen Wiederholungen, Variationen und Widersprüchen beschwor er seine Schweigezeit unter den Nazis, camouflierte, verschwieg wortreich, entzog sich dem Geständniszwang. Die holländischen Jahre stilisierte er als Emigration, den Ort bei München als ‚Kellerloch‘ und ‚Untergrund‘ und prägte das Stereotyp, er habe sich ‚untergestellt‘. Seine gegenwärtige Existenz stand still, die vergangene versteinerte – sein Albtraum.
Und ein neuer Roman? Man wartete darauf. Koeppen hatte derweil mit seiner Frau Marion und ihrem maßlosen Alkoholkonsum zu tun. Außerdem spielten existenzielle Sorgen, die benannte Schreibnot, Betteln und Ausreden bei Freunden, dem Verleger, Kollegen eine Rolle. Er konnte einfach nicht die Kraft für ein neues literarisches Projekt aufbringen. Schon damals im Romanischen Café saß Koeppen oft für sich. ‚Ich wollte dazugehören… nur keine Menschen kennenlernen.‘ Thomas Mann wagte er nicht anzusprechen, vor Benns und Döblins Wohnungstür machte er kehrt. Seine einzigen Freunde, die unglücklich Geliebte, Verleger, Gönner, Helfer, waren Juden. Und die verschwanden.
Diese Erinnerung erduldete Koeppen, ohne ihr eine Sprache geben zu können. Die Schuld und die Schuld, sich nicht schuldig zu fühlen, schauten ihm über die Schultern. Beobachteten ihn. Mit dem zweiten Schweigen wuchs die Verstrickung: Indem er den Roman schuldig blieb, setzte er sein erstes fort. Da seine Briefe keinen Adressaten fanden, ging ihm auch der Absender verloren. ‚Was wäre gewonnen, wenn man den Erzähler wegließe?‘, spekulierte er. Während er das irrwitzige Versteckspiel um seine zahllosen nichtexistenten Romanmanuskripte trieb, häuften sich in seinem Dead Letter Office Fragmente einer halb fiktiven Autobiografie – der Titel sollte lauten: ‚Nein‘. Was man ihm 1976 davon abrang, war die Jugend der Vorvergangenheit. […]
Das 35 Jahre währende Schweigen dieses großen modernen, kritischen und selbstkritischen Schriftstellers gegen alle Aufforderungen, Ehrungen und Vorleistungen ist die Aporie eines Mannes, der – doppelt zum Schweigen gebracht durch Nazis und Nazibewältiger – sein Stillsein angesichts der Verbrechen, das Stillsein der meisten, nie darstellen konnte. Ich möchte lieber nicht. Der Roman handelte vom Leben in Schuld, als Täter und Opfer. Koeppen konnte nicht schreiben, er schwieg konsequent, denn der ungeschriebene Roman war ein Roman über das Schweigen. Das Land hätte ihn brauchen können.
Denn das Missverständnis gesellschaftlich, politisch usw. gegenüber Wolfgang Koeppen, resultiert vermutlich auch aus dem Schweigen Koeppens. Er hat sich zwar eingemischt und seine Stimme erhoben, aber vielleicht war er zu leise und nun könnte man sagen, oder er selbst sagte es ja auch: Ich wurde eine Romanfigur.